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Medienindustrie holt ver.di ins Boot: Creative Coalition Campaign jetzt auch in Deutschland?

von , 21.4.10

Von Heiko Hilker und Jürgen Scheele

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di lädt zum Welttag des geistigen Eigentums – Montag, dem 26. April 2010 – zusammen mit dem Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT), dem Bundesverband Musikindustrie (BMVI), dem Verband Deutscher Drehbuchautoren (VDD), der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels unter dem Titel „Diebstahl geistigen Eigentum im Netz: 5 vor 12 für die Kreativwirtschaft“ zu einer Pressekonferenz. Sie beginnt bezeichnender Weise um 11:55 Uhr und erfolgt unter Berufung auf die im März 2010 vorgelegte TERA-Studie. Dieser Untersuchung zufolge hat der illegale Download von urheberrechtlich geschützten Werken (Film, Musik, Software, TV-Serien) im Jahre 2008 in Deutschland einen Schaden von 1,2 Mrd. Euro verursacht und damit 34.000 Arbeitsplätze gekostet.

Die von Medienindustrie und ver.di herangezogene Studie wurde von der Anti-Piraterie-Lobbyinitiative Business Action to Stop Counterfeiting and Piracy (BASCAP) der Internationalen Handelskammer (ICC) in Auftrag gegeben und von der Unternehmensberatung TERA Consultants erstellt. Sie erschien zeitgleich in fünf Sprachen – Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Deutsch – und trägt in der deutschen Fassung den Titel „Aufbau einer digitalen Wirtschaft: Die Bedeutung der Sicherung von Arbeitsplätzen in der Kreativwirtschaft der Europäischen Union“. Behauptet wird für die EU insgesamt (EU 27) ein auf Piraterie zurückzuführender Umsatzverlust in 2008 von 10 Mrd. Euro und ein kumulierter Beschäftigungsabbau von 186.600 Arbeitsplätzen. Darüber hinaus wird dargelegt, dass die Umsatzverluste bis 2015 ohne nachhaltige Beschränkung der Piraterie auf 32–56 Mrd. Euro anstiegen und einen Beschäftigungsabbau von 611.300–1.216.800 Arbeitsplätzen bewirkten.

Die Angaben der Studie sind allerdings keineswegs als valide zu bezeichnen. Einer vorherigen wissenschaftlichen Überprüfung in einem Peer-Review-Verfahren wurden sie nicht unterzogen Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Joe Karaganis weist zudem auf dem Blog Data Drip darauf hin, dass die Untersuchung zwei Grundfehler begehe: Einerseits sei der Verlust eines Industriesektors nicht automatisch ein gesamtwirtschaftlicher, die durch Filesharing eingesparten Einkommen der Konsumenten würden an anderer Stelle ausgegeben. Anderseits würden die Umsatzverluste und negativen Beschäftigungseffekte infolge Piraterie allein der europäischen Kreativwirtschaft angelastet, tatsächlich aber fielen sie zum überwiegenden Teil allenfalls bei US-Unternehmen an. Denn: Hollywood-Produktionen beherrschten in etwa 80 Prozent des Filmmarktes in der EU, im Software- und Musikbereich sehe es ähnlich aus.

Pikant ist auch Karaganis’ Hinweis auf die in der TERA-Studie adaptierte Untersuchungsmethode. Sie stammt von Stephen E. Siwek und wurde von diesem zuvor in mehreren Untersuchungen über die negativen Beschäftigungsauswirkungen von Internetpiraterie im Auftrag der Motion Picture of America (MPAA), der Recording Industry Association of America (RIA) und der Entertainment Software Association (ESA) angewandt. Um die vermeintlichen Jobverluste zu berechnen, werden die Umsatzverluste der Medienindustrie auf Basis der von diesen gemeldeten Urheberrechtsverletzungen hochgerechnet, durch das Durchschnittseinkommen in den Creative Industries dividiert und unter Berücksichtung der Zulieferindustrie mit dem Faktor zwei multipliziert.

Die TERA-Studie wurde am 17. März 2010 in Brüssel der Presse präsentiert und anschließend Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission vorgestellt. Ziel ist es, eine länderübergreifende Zusammenarbeit der Regierungen beim Kampf gegen Internetpiraterie zu erreichen und ein international sanktioniertes Urheberechtsregime im Netz zu etablieren. Die multinational agierende Medienindustrie hat dazu ein Bündnis aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden geschmiedet. Die Studie wird von den großen Gewerkschaften der Kreativindustrie wie dem Union Network International-Media Entertainment Industries (UNI-MEI), das nach Eigenangaben 120 Gewerkschaften und Fachverbände mit weltweit 250.000 Beschäftigten aus den Bereichen Medien, Unterhaltung und Kunst vertritt und dem in Deutschland über den Gewerkschaftsdachverband UNI auch ver.di angehört, oder der internationalen Künstlergewerkschaft International Actors Federation (FIA), der ver.di ebenfalls angehört, unterstützt. Ebenso wird die Studie von Arbeitgeberverbänden wie der International Federation of Film Producers’ Associations (FIAPF) und der European Coordination of Independent TV Producers (CEPI) mitgetragen. (Siehe hierzu die Pressemitteilungen von BASCAP, UNI-MEI und FIA.)

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di – oder ihre Spitze – hat sich nun offenbar entschlossen, diesem Bündnis beizutreten. Nachdem es zuletzt in Großbritannien (Digitale Linke berichteten unter maßgeblicher Mitwirkung der Creative Coalition Campaign gelang, das Modell einer „providergestützten Urheberrechtsdurchsetzung im Netz“ (Robin Meyer-Lucht) zu errichten, sollen nun auch hierzulande ähnliche Pläne verfolgt und eine Koalition der Gewerkschafts- und Unternehmensverbände geschmiedet werden. Dabei dürfte ver.di bekannt sein, dass die neuen Bündnispartner allesamt Sanktionsmaßnahmen um jeden Preis im Falle von Urheberrechtsverletzungen im Internet einfordern. Will die Gewerkschaft tatsächlich mit diesen den Weg von Überwachen und Strafen – der totalen Kontrolle des Netzes einschließlich Graduated Response, Netz- und Zugangssperren – gehen und sich damit in einem zentralen Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft im Digitalzeitalter für Jahre politikunfähig machen?

Crosspost von Digitale Linke.

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