#Gesundheitsreform

Bittere Pillen, dezenter Jazz: Die Gesundheitsreform als Praxistest der politischen Kommunikation

von , 24.3.10

Wenn Du den Menschen Deine politischen Visionen erklären willst, dann gehe nicht nur zu Plasberg oder Illner. Sondern auch einmal ins Berliner Hotel „Adlon“. – So oder ähnlich mögen Philipp Rösler und seine Berater gedacht haben, als sie den Auftritt des Bundesgesundheitsministers am Dienstagabend im Ballsaal des namlichen Hauses planten. Gediegen geht es zu in der Nobelherberge am Pariser Platz: Der Springbrunnen im Foyer plätschert, livrierte Kellner servieren Tee und Sandwiches, der Pianist untermalt die Szene mit dezentem Jazz. Schnell noch einen Streuselkuchen mit Apfel, bevor die rund 300 Gäste ihre Plätze einnehmen: der Saal ist prall gefüllt.

„Millionen neuer Jobs“ könnten in der Gesundheitsbranche entstehen, wenn nur die Rahmenbedingungen verbessert werden – so stimmt der Chef des gastgebenden Industrieverbandes das Publikum ein. „Jetzt müssen wir die Weichen richtig stellen: Wir müssen die Gesundheitskosten von den Lohnkosten abkoppeln!“

Das war das Stichwort für Philipp Rösler. Der junge Arzt springt behende ans Pult und kommt ohne weitere Umschweife zum Thema: „In den letzten 20 Jahren hat es sieben Gesundheitsreformen gegeben – und jedes Mal sind die Kosten weiter gestiegen“. Das erinnere ihn, Rösler, irgendwie an die „sieben biblischen Plagen“. Die Zeit sei reif für einen Systemwechsel. Die Zeit sei reif für eine Beseitigung planwirtschaftlicher zugunsten neuer, wettbewerblicher Elemente im Gesundheitssystem – und für die Loslösung der Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung vom Arbeitsentgelt. An ihre Stelle müsse eine einheitliche Prämie treten, die zugleich mehr Transparenz für die Versicherten und mehr Wettbewerb zwischen den Kassen herbeiführe. Die Regierung traue den Leistungserbringern mehr zu – und den Versicherten ebenso. Mit der Prämie, so der Minister, wolle man den Patienten ertüchtigen: „Wir ändern das System“.

Begeisterung in allen Stuhlreihen. Nach der Durchquerung der gesundheitspolitischen Wüste unter der schier ewigen Ulla Schmidt scheint plötzlich die Erlösung nah. Der Ballsaal des Adlon erstrahlt im hellen Glanz. Schon vermeint man im Hintergrund die Gläser klingen zu hören, als Rösler zum zweiten Teil seiner Rede anhebt – und reichlich Wasser in den Wein giesst: „Es geht um Solidarität. Und das heisst auch: Der Gesunde stützt den Kranken, der Reiche den Armen“. Das leiste das heutige System nicht – Stichwort Beitragsbemessungsgrenze. Die Zuhörer ahnen es: Jetzt sind sie dran. Der Sozialausgleich im Prämiensystem erfolgt über das…? Genau, über das Steuersystem! Und in dieses zahlen wir alle ein, „ein jeder nach seiner Leistungsfähigkeit“, wie Rösler es ungeschminkt beschreibt. Damit ist schnell klar: Himmlische Zustände bringt die Gesundheitsreform für die schwarz-gelbe Wählerschaft mit Sicherheit nicht. Und für die Pharmaindustrie auch nicht. Ihr bedeutet Rösler, was er vom „wenig marktwirtschaftlichen“ Preisfindungsmodell im Arzneimittelmarkt hält: „Ich will nicht von einem Monopol sprechen, aber…“.

Manch ein Mundwinkel zeigt jetzt nach unten. Die Pille, die Doktor Rösler seinem Auditorium verabreicht, ist bitter: Die Pharmaindustrie soll sich möglichst umgehend mit den Kassen an den Verhandlungstisch setzen. Dabei herauskommen sollen Entlastungen der Kassen in dreistelliger Millionenhöhe allein in diesem Jahr. „Das ist nicht schön“, bekennt Rösler. „Aber wir müssen kurzfristig mehr Geld in das System bekommen“. Pharmakonzerne sollen nicht nur den Nutzen, sondern den Zusatznutzen der Medikamente nachweisen können, für die sie Erstattung beantragen. Das böse Wort von den „Scheininnovationen“ – es brauchte gar nicht mehr ausgesprochen zu werden.

Die Verbandsvertreter, Unternehmenslobbyisten und Politikberater waren ins „Adlon“ gekommen, weil sie den gesundheitspolitischen Frühling herbeisehnten. Was sie erlebten, war ein Lehrstück in politischer Kommunikation: Rösler vermied alles, was auch nur den Anschein der Klientel-Politik erweckt hätte. Stattdessen verlegte er sich aufs Erklären: Der Minister erklärte seinen Zuhörern in gänzlich freier Rede zuerst, warum das gegenwärtige System ein Wachstumshemmer ist. Um ihnen dann in derselben, fast Obama-haften Leichtigkeit beizubringen, dass das verheissungsvolle (weil den Faktor Arbeit entlastende) neue System nur zu bekommen ist, wenn Steuerzahler, Industrie und Leistungserbringer dazu ihren (erklecklichen) Beitrag leisten. Wer jetzt noch auf individuelle Bevorzugung, aufs Verschontwerden spekuliert, der hat schon verloren.

Die Dialektik des Philipp Rösler ist eine andere. Der junge Minister zielt aufs ganze Volk, verbindet Wettbewerb mit sozialem Ausgleich, Transparenz mit solidarischem Transfer, Eigenverantwortung mit Fairness. Dabei beruft er sich auf seine „innere Freiheit“ – sie ermögliche es ihm, an seinen Überzeugungen festzuhalten. Kündigt sich da, unter der hohen Decke des Berliner Nobelhotels, etwa ein neuer Politikstil an? „Söder lehnt Kopfpauschale ab“, rattert es kurz darauf über die Nachrichtenticker. Der Abend im „Adlon“ markierte nur den Auftakt zu einer Debatte, die stürmisch zu werden verspricht.

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