#Distinktion

Von vielen Stilen zuviele: Das Ende der feinen Unterschiede

von , 11.1.10

Das Problem unserer Zeit ist nicht das Angebot, sondern die Entscheidung was relevant ist. Schließlich ist jede Kombination, jede Verknüpfung möglich, sind fast alle Informationen zugänglich. Wie im Süßwarenladen alleingelassene Kinder oder amerikanische Touristen am „All-You-Can-Eat“-Buffet stolpern manche durch das Internet und laden sich auf, was immer auch auf die Festplatte passen mag. Es sind Informationsmengen die sie niemals alle sehen, hören oder lesen werden können. Schlauer werden sie durch den Daten- und Stilmix nicht: „Darkwave in der weißen Weste, Liedermacher gegen Gäste, Kirchenlied auf schwarzer Messe, Whitemetal rückwärts: Latemetihw“ reimt Alpen-Rapper Rainer von Vielen auf seiner gerade veröffentlichten Single.

Der Fluch der endlosen Möglichkeiten endet bei ihm mit der verzweifelten Feststellung „Von vielen Stilen zu viele!“

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Die kulturelle Verwirrung ist groß: Wer theoretisch alles haben kann, hat keine Ausrede mehr, sich mit etwas Wichtigem nicht beschäftigt zu haben. Deshalb muss viel probieren, wer nicht wie ein Ignorant dastehen will.  In der Folge entstehen auf der Suche nach der eigenen Identität und Individualität in der Popkultur oft absurde Musiksammlungen die beispielsweise Norah Jones (Jazz) mit Eminem (Hip Hop), Shania Twain (County), Rammstein (Deutschmetall) und Robbie Williams (resozialisierter Teeniepop) vereinen. Gerne sind auch U2 (Alternative)  und Mario Barth (Comedy) mit von der Partie. Früher wäre eine solche Mischung ein Grund gewesen, massiv am Geisteszustand des jeweiligen Besitzers zu zweifeln. Heute sollen sie dessen musikalische Offenheit abbilden. Sie lassen sich in dieser Bandbreite auf jedem zweiten iPod finden. Doch solche bunten Genremischungen zeigen nur, dass die Spitzen der einzelnen Szenen längst den neuen Mainstream darstellen und Individualität zum Neo-Konformismus geworden ist.

Die vermeintliche Offenheit des Einzelnen führt zu einer allgemeinen Beliebigkeit. Denn wenn alles irgendwie immer da ist und akzeptiert wird, fehlen die Positionen an denen man sich reiben könnte. Widerstand geht ohne Gegner nicht. Der Kultur wird ein Teil ihrer Energie genommen, wenn derjenige, der ihr Angebot goutiert, keine Entscheidungen mehr durch seine eigene Ab- und Ausgrenzung trifft. Man könnte glatt von einem späten, gesamtgesellschaftlichen Horst-Eberhard-Richter-Effekt sprechen. Richter, das ist der Psychoanalytiker auf dessen Grundlage die 68er einigen von uns das Leben in den Kinderläden zu Hölle gemacht haben. Seine Position war, dass Eltern keine Position zu haben hätten, da sie es in Wirklichkeit auch nichts besser wüssten als ihre Kinder.

In dem Verständnis der Generation Jute hieß das: keine Verbote und auch keine Warnung vor der heißen Herdplatte. Den Kindern fehlte die Haltung des „Heinz“ oder der „Uschi“, die sie nicht mehr Papa und Mama nennen sollten, um sich an dieser abzuarbeiten. Sie lernten deshalb nicht Gegenpositionen zu entwickeln und zu vertreten. So viele Stile, doch so wenig „von Wegen“, heißt es bei Rainer von Vielen heute.

Als ich jung war, gab es noch kulturelle Warnsignale in den Plattensammlungen. Beim ersten Date bei ihr zu Hause wurde schnell geguckt, was da neben der Kompaktanlage stand, sobald sie auf der Toilette war oder den Tee holte. Viel war das in den meisten Fällen nicht. Entscheidend war jedoch nie die Menge, sondern der Inhalt. Traf man beim schnellen Blättern auf Platten von Toto, Tina Turner oder das notorische „Tea for the Tillerman“ von Cat Stevens war klar: Aus dieser jungen Liebe konnte wohl auf Dauer nichts werden. Zu verschieden die Einstellung und die Haltung für einen von seiner Musik besessenen wie mich. Die Qualität einer guten Musiksammlung definiert sich nämlich durch das, was gerade nicht dabei ist. Ein manischer Internetsauger dokumentiert mit seinem Tun nur ein generelles Interesse an Musik, aber keinen Geschmack. Er hat nicht einmal eine echte Wertschätzung für sie, denn sonst würde er nicht laden, was er nicht hört. Terabytes von Songs hätten mich wahrscheinlich auch vom Jugendzimmersofa der Angebeteten fliehen lassen, wenn es das damals schon gegeben hätte. Es ist wie immer in der Kunst: eine gute Gemäldesammlung beeindruckt ja auch nicht durch die Anzahl sondern die Qualität der Werke.

Der Connaisseur schärft seinen Geschmack indem er Entscheidungen trifft. Einen Stream als Basis der Musikversorgung ist für ihn wie Fertiggerichte für den Gourmet: Praktisch, aber den eigentlichen Gegenstand entwürdigend. Gestreamte Musik lässt nämlich nicht zu, dass er seine Pretiosen (den speziellen Mix, die besondere Version) sichert, sie gibt ihm nicht die Möglichkeit, eine Sammlung aufzubauen und diese ständig (auch durch Reduzierung) zu optimieren. Unendlichkeit ist kein Versprechen, für den, der liebt und deshalb sammelt. Der Stream ist das Mittel, aber er erfüllt nicht den Zweck allein. Spotify & Co. sind deshalb nichts anderes als die moderne Form von Radio. Auswählen und Aufheben müssen wir mit einer Haltung zu den Dingen schon selber. „Es gibt kein zurück“ freut sich Rainer von Vielen in dem Song.

Dieser Beitrag erscheint als Crossposting von Tim Renners Blog auf Motor.de.

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