#Energiepolitik

Auch in der Krise an Öl und Gas denken

von , 25.11.08

Auch wenn die Rezessionserwartungen – und infolgedessen deutlich gesunkene Ölpreise – dazu beigetragen haben, das Thema Energieversorgungssicherheit vorübergehend von der Spitze der politischen Agenda zu verdrängen, so gibt es doch keinerlei Grund zur Entwarnung. Alle seriösen Modelle, nicht zuletzt der World Energy Outlook, der Internationalen Energieagentur, gehen in ihren business as usual-Szenarien davon aus, dass die weltweite Nachfrage nach Öl und Gas mittelfristig weiter ansteigen wird.

Die Finanzkrise sowie die vorübergehend fallenden Rohstoffpreise lassen es jedoch noch unwahrscheinlicher werden, dass dringend notwendige Investitionen getätigt werden, sei es in zusätzliche Raffineriekapazitäten oder in die Erschließung neuer, aber relativ schwer zugänglicher Fördergebiete. Die negativen Effekte eines fortwährenden Investitionsstaus werden sich jedoch nicht schon kurzfristig auswirken.

Was das Thema Versorgungssicherheit aber schon bald wieder auf die tagespolitische Agenda befördern dürfte, ist ein drohender Gas-Streit zwischen dem russischen Export-Monopolisten Gazprom und der Ukraine. Käme es, ähnlich wie schon im Winter 2005/6, zu dem von Gazprom angedrohten Lieferstopp – und möglicherweise auch zu (vermutlich nur geringfügigen) Beeinträchtigungen der europäischen Gasversorgung – so werden wir zum wiederholten Male eine Debatte über die mangelnde Durchschlagskraft der Europäischen Union gegenüber Russland führen dürfen. Der Tenor ist schon jetzt absehbar: „Was hat die EU auf dem Gebiet der Energieaußenpolitik in den letzten Jahren erreicht? Fast nichts.“

Bei der Antwort gibt es kaum Interpretationsspielraum. Selbst Javier Solana, der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, hebt verschiedentlich hervor, dass eine EU-Energieaußenpolitik im Grunde genommen noch gar nicht existiert. Und in der Tat, bis heute wird das von der EU permanent betonte Prinzip, in Fragen der Energieaußenpolitik „mit einer Stimme“ sprechen zu wollen, nur selten konstruktiv umgesetzt. Aber ist die Frage eigentlich richtig gestellt? Ist es wirklich sinnvoll, beim Thema Versorgungssicherheit zuallererst an die Beziehungen der EU zu ihren Hauptlieferländern für Öl und Gas zu denken? Nicht unbedingt.

Dass die 27 EU-Mitgliedstaaten in der Regel nicht willens und in der Lage sind, energieaußenpolitisch eine gemeinsame Linie zu verfolgen, dass sie bilateralen Vereinbarungen mit wichtigen Lieferanten den Vorzug vor gesamteuropäischen Lösungen geben, wird oft und gern beklagt. Dabei überwiegt ein geradezu moralisierender Tonfall, der eine Dominanz von nationalen Egoismen beklagt.

Übersehen wird dabei allerdings, dass die Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten eine reale energiewirtschaftliche Grundlage haben. Aussagen über den EU-Energiemarkt, über den europäischen Energiemix oder die Importabhängigkeit der EU führen im Grunde genommen in die Irre. Da die Mitgliedstaaten bei leitungsgebundenen Energieträgern wie Strom und Gas nach wie vor kaum miteinander verknüpft sind, ist die Aussagekraft von europäischen Durchschnittswerten nur sehr beschränkt. De facto existieren gegenwärtig 27 verschiedene Energiemixe und 27 unterschiedliche Importabhängigkeitsstrukturen. Dass daraus letztlich ebenso viele energieaußenpolitische Interessenlagen resultieren, kann niemanden ernsthaft verwundern.

Ein gemeinsames europäisches Interesse besteht derzeit nur auf einer sehr abstrakten Ebene. Bei wichtigen Detailfragen fallen die Positionen jedoch schnell wieder auseinander. So mag Russland zwar statistisch gesehen der größte und bedeutendste Energielieferant der gesamten EU sein. Für Länder wie Spanien und Portugal, die ihre Gasimporte beinahe gänzlich aus Afrika beziehen, sind die energieaußenpolitischen Beziehungen zu Russland jedoch nur von nachrangiger Bedeutung. Wenn Ungarn eine eher pragmatische Haltung gegenüber Gazprom bevorzugt, Polen jedoch eine eher konfrontative, so erklärt sich dies nicht zuletzt aus dem Umstand, dass der ungarische Pro-Kopf-Verbrauch bei Erdgas um ein vierfaches höher liegt als der polnische. Ungarn kann sich eine ideologisch aufgeladene Energieaußenpolitik schlichtweg nicht leisten, denn bei etwaigen Lieferschwierigkeiten wäre derzeit jeder EU-Mitgliedstaat auf sich allein gestellt.

Daraus folgt nun keineswegs, dass man das Projekt einer europäischen Energieaußenpolitik ad acta legen sollte. Es ist jedoch illusorisch, den zweiten Schritt vor den ersten setzen zu wollen. Das vielbeschworene „Sprechen mit einer Stimme“ ist erst dann realistisch, wenn sich die energieaußenpolitischen Interessenlagen der Mitgliedstaaten angeglichen haben. Zu erreichen ist dies auf zwei Wegen, zum einen über die Schaffung eines funktionsfähigen europäischen Energiebinnenmarkts, zum anderen über den Aufbau von solidarischen Krisenreaktionsmechanismen.

Die verstärkte grenzüberschreitende Verknüpfung der mitgliedstaatlichen Energienetze, die Beseitigung von Marktzutrittsbarrieren für ausländische Wettbewerber, die Verpflichtung zum Aufbau von Reservekapazitäten bei Erdgas sowie zur gegenseitigen Hilfe im Krisenfall brächte für jede Regierung ganz automatisch eine Europäisierung ihrer energiepolitischen Perspektive mit sich.

Die Staaten der iberischen Halbinsel würden sich im Falle von Solidaritätsverpflichtungen auch für die Qualität der Lieferbeziehungen zwischen den osteuropäischen Staaten und Russland interessieren müssen, da sie im Krisenfall mit eigenen Vorräten einzuspringen hätten. Umgekehrt entfiele die theoretische Möglichkeit, dass ein Lieferland einen einzelnen EU-Mitgliedstaat gezielt unter Druck setzt, da dieser jederzeit von seinen europäischen Partnern mitversorgt werden könnte. Ein „solidarischer Energiebinnenmarkt“ brächte zudem für alle EU-Staaten einen weitaus stärkeren Diversifizierungseffekt mit sich als jedes weitere Pipelineprojekt in neue Lieferregionen.

Die EU-Kommission hat Mitte November bei der Evaluierung der EU-Energiestrategie erstmals einen vorsichtigen Perspektivwechsel in der Versorgungssicherheitspolitik vorgeschlagen. Im Vordergrund steht nicht mehr die Energieaußenpolitik, insbesondere nicht in ihrer geopolitisch orientierten Variante, die in Kategorien wie „Einflusszonen“ und „Pipelinekorridoren“ denkt. Im Mittelpunkt stehen vielmehr EU-interne Maßnahmen, nicht nur Infrastrukturausbau, Bevorratungspflichten und Krisenreaktionsmechanismen, sondern auch eine Erhöhung der Energieeffizienz sowie ein Ausbau der erneuerbaren Energien, was jeweils zur Verringerung der Öl- und Gasimporte führen würde. Ob sich die Mitgliedstaaten dem von der Kommission vorgeschlagenen Strategiewechsel tatsächlich anschließen werden, wird sich bis zum März 2009 entscheiden.

Eine europäische Energieaußenpolitik muss durch geeignete Maßnahmen innerhalb der EU vorbereitet werden, anderenfalls wird sie weitgehend wirkungslos bleiben. Dies hat nicht zuletzt den Vorteil, dass die Europäer die ersten notwendigen Schritte zur Erhöhung ihrer Versorgungssicherheit ganz eigenständig gehen können, noch unabhängig von den Verhandlungspositionen schwieriger Energiepartner wie Russland. Wenn die EU es allerdings versäumen sollte, ihre Hausaufgaben rechtzeitig zu erledigen, wird sie die Schuld dafür nicht bei anderen suchen können.

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