Gaskrisenvorsorge: Mehr Binnenmarkt, weniger Außenpolitik

von , 30.9.09

Wenn in der Europäischen Union über die Sicherheit der Gasversorgung debattiert wird, richtet sich der Blick in aller Regel nach außen. Das Problem wird seit Jahren vor allem bei den Lieferländern verortet, allen voran bei Russland. Seit Beginn des Jahres ist immerhin auch das Bewusstsein für die Bedeutung von Transitländern wie der Ukraine gewachsen. Aber das ändert nichts an der falschen Gleichsetzung von Versorgungssicherheit und Energieaußenpolitik. Es ist höchste Zeit, nicht mehr nur über neue Importpipelines zu sprechen, sondern vor allem über EU-interne Maßnahmen. Dazu zählt neben der Steigerung der Energieeffizienz, dem Ausbau der Erneuerbaren und der Schaffung eines Gasbinnenmarkts nicht zuletzt auch die Etablierung von effektiven Krisenreaktionsmechanismen.

Die EU-Kommission hat vor der Sommerpause einen Verordnungsvorschlag zur Notfallvorsorge im Gassektor vorgelegt, der das Potenzial hat, einen Paradigmenwechsel in der europäischen Versorgungssicherheitspolitik einzuleiten. Auch wenn dies von der Kommission wohl nicht wirklich beabsichtigt ist: Nach Jahren vergeblicher Versuche, eine gemeinsame europäische Energieaußenpolitik aufzubauen, dürfte nun eine Phase folgen, in der sich die EU zuallererst auf ihre eigenen Stärken konzentriert. Denn es ist strategisch wenig sinnvoll, ein Höchstmaß an politischer Energie darauf zu verwenden, sich mit bescheidenem Erfolg an selbstbewussten Gasproduzenten und zum Teil dysfunktionalen Transitländern abzuarbeiten – und darüber die eigenen Hausaufgaben unerledigt zu lassen.

Mit ihrem Verordnungsvorschlag will die Kommission erreichen, dass die Mitgliedstaaten ein einheitliches Niveau der Risikovorsorge erreichen. Selbst beim Ausfall der wichtigsten Gasinfrastruktur mitten im Winter soll es möglich sein, Privathaushalte und andere „geschützte Verbraucher“ wie Schulen und Krankenhäuser noch 60 Tage lang zu versorgen. Diese Vorgabe würde Mitgliedstaaten wie Deutschland, das im Gasbezug breit diversifiziert, mit den Nachbarländern gut vernetzt und mit Speichern hervorragend ausgestattet ist, kaum Kopfzerbrechen bereiten.

Mit ihrem Ansatz, die Pflicht zur Eigenvorsorge deutlich in den Mittelpunkt zu stellen, würde die Verordnung vor allem einigen osteuropäischen Staaten ganz erhebliche Anstrengungen abverlangen. Deren Versorgungssicherheitspolitik könnte sich nun nicht mehr länger darauf beschränken, sich wortreich über das Gebaren ihres russischen Haupt- oder gar Alleinlieferanten zu beklagen und auf die baldige Realisierung visionärer Pipelinekorridore zu hoffen. Gerade die von der Gaskrise im Januar besonders betroffenen Länder wären gezwungen, eine pragmatische Politik der kleinen Schritte entwickeln, bei der vor allem die realen Effekte der eingesetzten Instrument im Vordergrund stünden – und nicht nur deren symbolisches Potenzial. Es bliebe allein den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie eher auf unspektakuläre Maßnahmen wie den Ausbau von Gasspeichern, Lückenschlüsse im Pipelinenetz und unterbrechbare Verträge bei Großverbrauchern setzen wollen – oder aber bevorzugt neue Flüssigerdgas-Terminals und Importpipelines vorantreiben.

Eine europäische Krisenvorsorge wird nur dann effizient sein, wenn sie den Aufbau eines funktionierenden Gasbinnenmarkt ergänzt, nicht aber versucht, ihn zu ersetzen. Dabei ist weniger die Entflechtung der integrierten Versorger von Belang. Im Vordergrund muss vielmehr die stärkere infrastrukturelle Verknüpfung der mitgliedstaatlichen Energiemärkte sowie die europaweite Harmonisierung der Handelsregeln und Netzkodizes stehen, kurzum: der koordinierte Aufbau eines europäischen Netzverbunds, der einer einheitlichen Energiemarktregulierung unterworfen ist. In einem europäischen Gasbinnenmarkt wären Haushalte und Unternehmen wesentlich besser gegen das Risiko von Lieferunterbrechungen gewappnet als heute. Solange irgendwo in Europa noch Reservekapazitäten verfügbar wären, würden diese in Krisenfällen auch geliefert – wenn denn der Preis stimmt.

Dieser Marktmechanismus ist jedoch nicht mit dem viel beschworenen Prinzip der Energiesolidarität zu verwechseln. Wenn sich auch die ärmeren EU-Mitgliedstaaten auf eine innereuropäische Unterstützung verlassen können sollen, werden verbindliche marktergänzende Regeln benötigt. Deshalb sollte es in Extremsituationen möglich sein, besser gestellte Mitgliedstaaten zur Freigabe vorhandener Reserven an unverschuldet in Not geratene Partner zu verpflichten – ähnlich wie beim Ölkrisenmechanismus der IEA. Erst dann werden sich die Befürchtungen vieler osteuropäischer EU-Mitglieder zerstreuen, sie könnten gezielt durch einen Gasproduzenten unter Druck gesetzt werden.

Aus der Perspektive der europäischen Gaswirtschaft mögen die politischen Befürchtungen hinsichtlich der Versorgungssicherheit bisweilen überzogen erscheinen. Doch die seit Jahren zunehmende Politisierung des Themas wird sich nicht mehr vollständig rückgängig machen lassen.  Selbstverständlich wird die Versorgung auch in Zukunft durch bilaterale Verträge mit bedeutenden Gasexporteuren gewährleistet werden. Im Unterschied zur heutigen Situation würde der außenpolitische Streitwert der Ostseepipeline in einem um Elemente der solidarischen Krisenvorsorge ergänzten Gasbinnenmarkt jedoch gegen Null tendieren. Es wäre dann nicht mehr entscheidend, ob eine neue Pipeline in Deutschland ankommt oder durch Polen verläuft – wichtig wäre nur, dass sie Gas in die Europäische Union bringt.

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