#Bundesverfassungsgericht

Karlsruher Visionen für Europa: Mehr Demokratie wagen

von , 10.7.09

Wenn ganz Europa nach Karlsruhe blickt, dann ist selten Gutes zu erwarten. Es geschieht nicht häufig, dass die Idylle des Schlossparks der badischen Hauptstadt von Vertretern der internationalen Presse heimgesucht wird und sich für wenige Stunden die Augen der politischen Akteure in Brüssel wie Berlin auf die wegweisenden Worte der acht Richter in ihren roten Gewändern richten. Selten bietet der politische Alltag spannendere Szenen, als den Moment, in dem der Gerichtssprecher mit bestimmter Stimme verkündet: „Das Bundesverfassungsgericht!“

Am 30. Juni war es also wieder einmal so weit. Das mächtigste Verfassungsgericht der Welt hatte über die Zukunft eines historisch einzigartigen Einigungsprozesses souveräner Nationalstaaten zu entscheiden. Juristisch gesehen war die Sache natürlich weit weniger bedeutungsschwer. Die Richter hatten zu prüfen, ob das im vergangenen Jahr verabschiedete Zustimmungsgesetz des Deutschen Bundestags zum Vertrag von Lissabon sowie die ihm beigefügten zwei Begleitgesetze mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu vereinbaren seien. Dennoch ging es bei diesem Urteil um weit mehr, als nur die vergleichsweise banale Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Es ging auch um die Frage, inwieweit der europäische Integrationsprozess noch mit den Grundsätzen partizipativer und repräsentativer Demokratie im größten Mitgliedstaat der Europäischen Union kompatibel ist.

Es war nicht das erste Mal, dass Karlsruhe über Europa entschied. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren widmete sich das Bundesverfassungsgericht der Frage nach der Vereinbarkeit des Grundgesetzes mit der zunehmenden Europäisierung deutscher Politik. Schließlich durfte das Verfassungsgericht 1992 unter dem später zu zweifelhafter Berühmtheit gelangten Berichterstatter Paul Kirchhof ebenfalls über ein Zustimmungsgesetz entscheiden. Diesmal über das Gesetz zum Vertrag von Maastricht über die Gründung der Europäischen Union, bei dem es auch um die Frage ging, ob und inwieweit Deutschland überhaupt mit der Entwicklung eines politischen Systems in Brüssel, schlimmer noch, mit einer eigenen Gerichtsbarkeit im fernen Ausland zu vereinbaren sei. Derselbe Paul Kirchhof, der vergangene Woche das Urteil auf nahezu allen deutschen Fernsehkanälen kommentierte, hatte damals ein „Nadelöhr“ konstruiert, durch das Europa nach Deutschland kriechen dürfe. Stets unter der Voraussetzung, dass die Nadel in Karlsruhe steht und alles, was hindurch geht, mit kritischem Blick gemustert würde. Auch die richterliche Konkurrenz in Luxemburg sollte „kooperativ“ mit den Karlsruher Richtern zusammenarbeiten – wobei stets klar wäre, dass die Hackordnung nach Alter aufgestellt würde. Das sogenannte „Maastricht-Urteil“ prägte jedenfalls den europarechtlichen Diskurs in Deutschland über die vergangenen 16 Jahre hinweg.

Diesmal, im Juni 2009, sollte alles jedenfalls viel glatter laufen. Der widerspenstige Richter Kirchhof mit seiner skeptischen Haltung zu „ausgreifenden Kompetenz-Kompetenzen“ war aus dem Gericht ausgeschieden und nach der langen Durststrecke, die das Scheitern des Verfassungsvertrags und später der lange Kampf um eine Reanimation des Integrationsprojekts hervorgerufen hatte, da könnten nun doch nicht die Richter in Karlsruhe so kurz vor dem Ziel noch alles vermasseln. Eine gewisse Selbstsicherheit hatte sich eingerichtet, die kurz nach der Urteilsverkündung von allgemeiner Zufriedenheit verdrängt wurde. Ein strahlender Außenminister Steinmeier betrat den sommerlichen Schlossgarten und verkündete, dass Deutschland seiner Pflicht an Europa nachgekommen sei. Wenig später erschienen jedoch auch die vermeintlichen Rebellen um den CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler sowie Vertreter der Fraktion DIE LINKE, die ebenfalls allesamt einen guten Tag erlebt zu haben schienen. Wie ist das zu erklären?

Die Antwort darauf lässt sich erst mit einigen Tagen Abstand und einer genaueren Lektüre des rund 160 Seiten umfassenden Urteils verstehen. Einerseits, so die Befürworter des europäischen Vertragswerks, habe das Gericht die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes anerkannt und die Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren der Kläger in so gut wie allen Punkten zurückgewiesen. Gleichzeitig seien dem Bundestag einige formelle Fehler unterlaufen, die es nun im Rahmen einer Sondersitzung in der Sommerpause zu beheben gelte. Andererseits, so die Kläger, habe das Gericht ihnen in zentralen Kritikpunkten Recht gegeben, was nicht nur durch die anteilige Prozesskostenerstattung belegt werde. Der Integrationsprozess, so Gauweiler, habe seinen Höhepunkt vorläufig überschritten, da der Brüsseler Apparat zu weit vom deutschen Bürger entfernt sei und das Grundrecht des Einzelnen auf Verwirklichung seines politischen Willens über demokratische Wahlen nicht mehr erfüllt werden könne, da Gesetze aus Europa keiner rechtlichen Kontrolle im Staat unterworfen werden könnten. Dies habe er moniert und die Richter hätten ihm durch die teilweise Verwerfung des Begleitgesetzes Recht gegeben. Immerhin: Das Maastricht-Urteil fand zwar scharfe Worte in der Urteilsbegründung, das Ratifikationsgesetz wurde jedoch als verfassungsgemäß anerkannt.

Tatsächlich muss jedoch beiden Seiten ein bodenständiges Maß an Ignoranz und eine Missachtung der meist feinen Nuancierung des Urteils vorgeworfen werden. Wenn die Bundesregierung und die Mehrheit des Bundestags nur denjenigen Teil der Entscheidung zur Kenntnis nehmen, der ihnen als Anleitung zur Neuanfertigung des Begleitgesetzes zu den Beteiligungsrechten von Bundestag und Bundesrat dient, so haben sie die Botschaft der Richter verkannt und hätten die Chance zu einer Neujustierung deutscher Europapolitik verpasst. Den Gegnern des Vertrags wurde durch das Urteil wiederum klar und deutlich vor Augen geführt, dass die Europäische Union inzwischen einen kaum widerruflichen Teil des politischen Systems der Bundesrepublik darstellt, dessen Legitimität solange bestehen bleibt, wie der Bundestag die ihn bindenden Verpflichtungen im Rahmen der deutschen Verfassungsordnung wahrnimmt und aktiv ausfüllt.

Entscheidend scheint bei aller Euphorie – ebenso wie bei aller Kritik –, dass zwei wichtige Aspekte des Urteils in der künftigen Diskussion stärker in den Vordergrund rücken, die bislang von keiner der beiden Seiten näher erläutert wurden:

1.

Sollte es in absehbarer Zeit den Willen zu einer substanziellen Erweiterung der Zuständigkeiten Europas geben, etwa in den Bereichen der sozialen Sicherung, der Verteidigungspolitik, des Strafrechts oder ähnlichen fundamentalen Prinzipien der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, so kann die Lösung nicht primär in den Veränderungen europäischer Verträge und erweiterten Beteiligungsrechten des Parlaments begründet liegen. Nein, der Schlüssel zu einer derartigen Komepetenzerweiterung findet sich nur in der Entwicklung einer neuen deutschen Verfassung, die aufgrund ihrer Ausrichtung einen solchen Schritt erlauben würde. Nur der Souverän – das deutsche Volk – könnte Grundprinzipien der Verfassung so verändern, dass zentrale Bereiche des Grundgesetzes unter gemeinschaftliche europäische Entscheidungshoheit fallen. Weder der Bundestag noch die Vertreter der Länder im Bundesrat sind zu einer solchen Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt, wie das Verfassungsgericht in seinen Ausführungen festhält.

Das Grundgesetz war stets ein Provisiorium, das seit erstaunlich langer Zeit überlebt und sich sogar über die deutsche Wiedervereinigung rettete, gleichzeitig aber nicht für weitere große Reformschritte hin zu einem möglichen europäischen Bundesstaat ausgerichtet ist. Über Art. 146 GG könnte sich das deutsche Volk mit einer gesamtdeutschen Verfassung ausstatten, die auch für eine weitere Integration in ein friedliches, demokratisches Europa offen stehen würde.

2.

Bis dieser Schritt verwirklicht werden kann, bedarf es weiterer Demokratisierungsprozesse in Europa. Ob die harsche Kritik der Richter an der verfassungsrechtlich weitgehend bedeutungslosen Funktion und der demokratisch-legitimatorischen Rückständigkeit des Europäischen Parlaments gerechtfertigt ist, darf durchaus kontrovers diskutiert werden. Dass das Europäische Parlament den Ansprüchen des Grundgesetzes an die Repräsentation des Volkswillens nicht genügt, sollte dem Beobachter der kürzlich vollzogenen Europawahlen allzu deutlich vor Augen geführt worden sein. Erst wenn sich die Entwicklung eines „europäischen Volkes“ in den Institutionen der Europäischen Union widerspiegelt, kann auch realistischerweise über eine Übertragung von Grundrechtswahrungs- und Repräsentationsfunktionen an europäische Institutionen verhandelt werden. Die Richter monieren zu Recht, dass im europäischen Binnenmarkt die Frage nach der Herkunft eines Produktes als Diskriminierung wahrgenommen wird, bei Europawahlen die Herkunft des Bürgers jedoch das entscheidende Kriterium für den Zählwert seiner Stimme darstellt. Folgt die politische Union der Wirtschaftsunion, so könnte sich die Hoffnung auf ein demokratisches System für Europas Bürger erfüllen, das für die Anerkennung im Sinne des Verfassungsgerichtsurteils entscheidend wäre.

Nachdem die kommenden Monate in erster Linie von der Gerichtsschelte proeuropäischer Einrichtungen aus Wissenschaft und Politik, so etwa Ex-Außenminister Joschka Fischer in der ZEIT einerseits, sowie von populistisch anmutendenden Auslegungen des Urteils in einzelnen europaskeptischen Gruppen – vergleiche die Äußerungen des CSU-Generalsekretärs Dobrinth – andererseits geprägt sein werden, ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser weitreichenden Entscheidung vorläufig nicht absehbar. Zu hoffen bleibt jedoch, dass sich verantwortliche Entscheidungsträger nach dem irischen Referendum und dem möglichen Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wieder in die Lage versetzt sehen, neue Visionen zu entwickeln. Diesmal jedoch nicht nur Visionen für die Zukunft der eher technischen Funktionsweise der Europäischen Union selbst, sondern gleichermaßen Visionen für die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland in eben diesem Europa.

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